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„White lies“ in Experteninterviews – please me, please

Für alle medizinischen Fragestellungen sind Experteninterviews besonders wertvoll, um einen Einblick in das komplexe Wechselspiel der Entscheidungsfindung zu gewinnen, die über das Schicksal von Medikamenten und Medizinprodukten im Markt entscheiden. Der Wert dieser Interviews beruht in erster Linie auf der Belastbarkeit der Expertenmeinung, und diese wiederum ist nicht in erster Linie durch direkte Falschaussagen gefährdet, sondern durch die kleinen Verdrehungen und Abweichungen von der Wahrheit, die allgemein als „Weiße Lügen“ bezeichnet werden. Diese lassen sich zwar nicht ganz vermeiden, aber durchaus eindämmen.

Vor einiger Zeit begleitete ich einen Arzt nach einem Vortrag vor Pharmareferenten zum Taxi. Er war Autor einer sehr schönen Studie, die gezeigt hatte, dass eine multimodale Intervention die klinischen Ergebnisse bei chirurgischen Patienten verbessert. Eine der Maßnahmen war der konsequente Einsatz eines generischen Präparates, das die Pharmareferenten bewarben, und der Marketingleiter und ich waren daher übereingekommen, ihn als Referent einzuladen. Wir wollten den Pharmareferenten vermitteln, dass generische Präparate weiterhin eine wichtige und sogar zunehmende Rolle spielen können, wenn sie im Rahmen moderner Behandlungskonzepte eingesetzt werden. Dem Arzt war klar, dass sein Publikum weniger einen wissenschaftlichen Vortrag als eine motivierende Präsentation hören wollte. Und die lebhafte Diskussion der Zuhörer mit ihm nach seinem Vortrag bewies, dass er damit Erfolg gehabt hatte. Umso überraschender war für mich, als er auf dem Weg zum Wagen sagte: „Generika sind eine wunderbare Sache, aber das Präparat, das für Ihren Kunden so wahnsinnig wichtig ist, ist für uns eine absolute Nebensache und es ist uns Ärzten völlig wurscht, wer es liefert.“ Gerade eben hatte er noch seinen Zuhörern versichert, dass sie ihn bei seiner Arbeit unterstützen, wenn sie ihm ihr Produkt verkaufen – tatsächlich aber hatte er eine weiße Lüge erzählt.

Weiße Lügen zielen darauf, Gesprächspartner glücklich zu machen, ohne dem Lügner unmittelbaren Nutzen zu verschaffen. Längerfristig können sie aber durchaus dem Erzählenden nutzen, denn sie sind ein sozialer Schmierstoff und letztendlich unabdingbar für ein gedeihliches Zusammenleben. Man stelle sich nur vor, eine Kollegin erzählt, dass sie den Flugschein für Sportflugzeuge gemacht hat. Wenn Sie streng der ethischen Richtlinie folgen, niemals zu lügen, antworten Sie ihr möglicherweise, dass Sie das für Geldverschwendung halten und es ein unverantwortliches Risiko ist, Kleinflugzeuge zu fliegen. Falls Kollegen Ihnen zuhören, ist es extrem unwahrscheinlich, dass man Sie nicht für äußerst unhöflich hält und Ihnen zu Ihren hohen ethischen Standards gratuliert. Allerdings haben weiße Lügen nicht nur eine positive soziale Funktion. Sie können durchaus unerwünschte Effekte haben, wenn es darum geht, die Einstellung einer Person zu erfragen, z.B. durch Experteninterviews. Eine weiße Lüge kann gerade die Ziele, die Sie mit Ihrem Interview verfolgen, ad absurdum führen – umso mehr, weil Experteninterviews mit wenigen Personen durchgeführt werden und es meist nicht möglich ist, durch hohe Fallzahlen den Effekt solcher Ausreißer zu neutralisieren.

Um zu verhindern, dass weiße Lügen Ihre Schlussfolgerungen aus den Aussagen von Experten verzerren, ist es wichtig zu verstehen, dass Ihre Interviewpartner solche Aussagen machen, ohne viel darüber nachzudenken. Weiße Lügen verursachen keine ernsthaften moralischen Probleme, denn sie weichen oft nur graduell von der Wahrheit ab und sind daher nahe an den moralischen Wertvorstellungen und den wahrgenommenen Fakten des Interviewpartners.1 Das bedeutet, dass Maßnahmen zur Verhinderung eindeutiger Lügen wie Interviews von Angesicht zu Angesicht oder Appelle an die ethische Verantwortung des Interviewpartners wenig geeignet sind, weiße Lügen zu verhindern.

Zuerst sollte man sich daher klar machen, warum weiße Lügen erzählt werden:
1. Die Interviewpartner können sich verpflichtet fühlen, im Sinne des Interviewers zu antworten, weil der eine Aufwandsentschädigung zahlt oder aus Loyalität zu einem Medikament oder der Firma, die die Interviews in Auftrag gegeben hat.
2. Sie können dazu dienen, Wissensdefizite zu verschleiern, z.B. wenn Meinungsbildner nicht mehr in die tägliche Arbeit auf Station eingebunden sind. Das kann zum Beispiel dazu führen, dass Informationen über Verfahrensweisen veraltet sind.
3. Die Zugehörigkeit von Interviewer und Interviewtem zur selben Berufsgruppe kann dazu führen, dass weiße Lügen erzählt werden, um eine Bloßstellung zu vermeiden. Ein Arzt kann zum Beispiel bei der Frage zum leitliniengerechten Einsatz eines Medikaments durch einen interviewenden Arzt versucht sein, eine Abweichung von den Leitlinienempfehlungen zu verschleiern.
4. Die Art der Fragestellung kann weiße Lügen begünstigen. Das gilt keineswegs nur für Suggestivfragen wie “Bevorzugen sie unser Wundermittel?“, auch scheinbar neutrale Fragen wie „Ist Wundermittel eine effektive Therapieoption?“ wird überdurchschnittlich häufig eine bejahende Antwort erhalten, weil wir alle dazu neigen, positiv formulierte Fragen auch positiv zu beantworten.2
Ein weiterer Auslöser weißer Lügen ist der kulturelle Hintergrund: Wenn der Interviewpartner in einem Umfeld sozialisiert wurde, das Konformität höher bewertet als Eigenständigkeit.3 Aus meiner Erfahrung spielt dieser Aspekt allerdings für das Antwortverhalten bei Personen mit hohem Sozialstatus und Bildungsgrad eine untergeordnete Rolle. Die meisten hochrangigen Experten haben Ihre Position durch ihr unabhängiges Denken erreicht, und das wird meist auch in den Interviews schnell deutlich.

Wenn man sich grundsätzlich des Risikos von weißen Lügen in Interviews bewusst ist, kann man einiges tun, um zu verhindern, dass sie die Interviewergebnisse substantiell beeinflussen:
1. Wenn irgendwie möglich, sollten nicht ausschließlich Experten interviewt werden, die der Kunde vorgegeben hat. Bei vielen medizinischen Themen ist die Suche nach Originalarbeiten zum Thema ein guter Ausgangspunkt, um interessante Experten zu identifizieren. Der Fokus sollte dabei nicht auf den Autoren mit Meinungsbildnerstatus liegen, es sei denn, „politische“ Aspekte stehen im Vordergrund.
2. Der Kunde sollte darauf hingewiesen werden, dass die Teilnahme von Firmenrepräsentanten an Telefoninterviews sehr wahrscheinlich einen erheblichen Einfluss auf die Informationen haben wird, die der Interviewte preisgibt. So wird ein als neutral wahrgenommener Interviewer eher eine offene Meinung zu Mitbewerbern erfragen können.
3. Ein Briefing für den Interviewpartner sollte so formuliert werden, dass sie oder er nicht bereits in eine bestimmte Denkrichtung gedrängt wird, z.B. durch die Verwendung von Marketingslang.
4. Wenn der Fragebogen für das Interview entwickelt wird, ist oft schon absehbar, welche Fragen wahrscheinlich weiße Lügen auslösen könnten. Hier kann es sich lohnen, das Thema von zwei Seiten anzugehen, um die Antworten zu überprüfen. So kann zum Beispiel als erstens gefragt werden, ob bestimmte Leitlinienempfehlungen am Arbeitsplatz des Interviewpartners umgesetzt und später ein Patient diskutiert werden, der aufgrund des klinischen Bildes eine entsprechende leitlinienbasierte Behandlung erhalten sollte.
5. Wenn der Interviewer einen kompetenten und gut vorbereiteten Eindruck macht, sind Experten immer offener in ihrer Kommunikation. Das kann allerdings auch dazu führen, dass weiße Lügen erzählt werden, um zu gefallen oder aus falsch verstandener Gruppenloyalität heraus. Kann man als Interviewer selbst ein Thema vertiefen oder Details beitragen, die dem Interviewpartner nicht bekannt sind, schafft man eine Atmosphäre professionellen Vertrauens, die die Wahrscheinlichkeit ausgewogener Antworten erhöht.
6. Die Wortwahl und Art zu sprechen ist erwiesenermaßen ein besserer Indikator für den Wahrheitsgehalt von Aussagen als körperliche Signale.4

Telefoninterviews zwingen den Interviewer, sich genau auf diese Aspekte zu konzentrieren. Wenn der Interviewpartner es erlaubt, zeichnen Sie die Gespräche auf. Dann können Aussagen, die möglicherweise weiße Lügen sind, noch einmal angehört und ausgewertet werden. Außerdem helfen Aufzeichnungen dabei, missverstandene Aussagen und eigene Fehlwahrnehmungen zu erkennen, die im Grunde eigenbezogene weiße Lügen sind.

Trotz des Risikos weißer Lügen, sind Experteninterviews bei vielen Fragestellungen eine der besten Möglichkeiten, schnell und zielgenau Informationen zu erhalten. Sie sind vor allem dann Mittel der Wahl, wenn sich die gesuchten Informationen schlecht quantifizieren lassen, z.B. die individuelle Einstellung zu bestimmten Behandlungsmethoden, Defizite in der medizinischen Versorgung oder zukünftige Entwicklungen. Einige überschaubare Vorsichtsmaßnahmen helfen Ihnen, ungewollte Verzerrungen der Interviewergebnisse zu vermeiden und Ihren Auftraggebern relevante und verlässliche Informationen zu liefern. 

1. Hilbig BE, Hessler CM. What lies beneath: How the distance between truth and lie drives dishonesty. J Experim Social Psych 2013; 49(2): 263-266
2. Steinmetz J, Posten AC. White lies and black lies: What they have in common and how they differ. The inquisitive mind 2018 at White lies and black lies: What they have in common and how they differ (last accessed 07/2019)
3. Fernández I, Paez D, González JL. Independent and Interdependent Self-construals and Socio-cultural Factors in 29 Nations. Intl Rev Social Psychol 2005; 18(1): 35-63
4. Bond CF, De Paulo BM. Accuracy of deception judgments. Personality Social Psychol Rev 2006; 10(3): 214–234

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