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Wo man „echte Evidenz“ findet

Der Artikel “Evolution of evidence-based medicine to detect evidence mutations”, von Alpers et al., der im “Journal of the Royal Society of Medicine” (J R Soc Med 2015; 108: 8-10) (Ncbi) erschienen ist, scheint evolutionäre Mechanismen zur Erklärung sozialer Phänomene zu nutzen. Ein Ansatz dem ich misstraue, da er schnell in verdrehten Konzepten wie dem Sozialdarwinismus resultiert. Allerdings benutzen die Autoren die Anspielung auf die Genetik elegant als Rahmen, um Beispiele unausgewogener wissenschaftlicher Beweisführung (based evidence) in der Medizin zu veranschaulichen. Als Beispiele nennen die Autoren Studiendaten, die in FDA-Gutachten verborgen sind, aber nie publiziert wurden, da sie nicht mit den Marketing-Claims zum Produkt passen. Studien eines Wissenschaftlers, dem wissenschaftliches Fehlverhalten nachgewiesen wurde, die aber nie von den wissenschaftlichen Zeitschriften zurückgezogen wurden. Oder Daten, die mehrfach in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Dies führt dazu, dass Metaanalysen wichtige Studien nicht berücksichtigen oder ungültige Daten mit einbeziehen. Andere Einflussfaktoren auf Metaanalysen, die die Autoren diskutieren, sind weniger eindeutig: Studien mit Patienten, die nicht repräsentativ für die untersuchte Indikation sind, dürften eher die Regel als die Ausnahme sein, wenn man bedenkt, dass alte und multimorbide Patienten aus vielen Studien ausgeschlossen werden. Mit dem schönen Ausdruck der „akademischen Inzucht“ wird charakterisiert, dass hauptsächlich eine Arbeitsgruppe Ergebnisse zu einem Wissensgebiet liefert. Dieses Phänomen gibt es sicherlich, andererseits werden viele Themen außerhalb des medizinischen Mainstreams nur von einer kleinen Gruppe Wissenschaftlern bearbeitet.

Tatsache ist, dass es noch viele weitere potentielle Einflussfaktoren bei der Studienauswahl für Metaanalysen gibt, die die Ergebnisse genauso verfälschen können wie eine unklare Datenlage. Beispiele dafür sind Sprachbarrieren bei der Suche nach Studien, der Einschluss von Studien, über eine längere Zeitspanne, innerhalb derer sich die Begleittherapie substantiell verändert hat oder unterschiedliche Endpunktdefinitionen in verschiedenen Studien. Schließlich gibt es neben dem Tod nur wenige klinische Endpunkte, bei denen Spielraum in der Diagnosestellung besteht.

Eine eindeutig korrekte Auswahl von Studien für Metaanalysen wird daher sehr selten möglich sein und verschiedene Autoren werden ein unterschiedliches Maß an Heterogenität für einzelne Parameter akzeptieren. Aus diesem Grund stimme ich nicht mit dem Standpunkt der Autoren überein, dass es zu viele Metaanalysen auf den meisten Gebieten gibt – einmal abgesehen von extremen Situationen, in denen es genauso viele Metaanalysen wie Studien gibt, ausgenommen: BMJ. Mehrere Metaanalysen zu einem Thema, die zu verschiedenen Ergebnissen kommen, zeigen vor allem, dass das Thema nicht ausreichend untersucht ist.

Um auf die unausgewogene wissenschaftliche Beweisführung, die von Alpers et al. als „Evidenz-Mutationen“ bezeichnet werden, zurück zu kommen, verhält es sich damit tatsächlich genauso wie mit genetischen Mutationen. Sie können gesunde unterschiedliche Blickwinkel auf ein Thema eröffnen, oder Ausdruck einer ungehemmten Proliferation dysfunktioneller Daten sein. Am Ende lässt sich das nur herausfinden, wenn man bereit ist, sich tief in die Thematik einzuarbeiten oder jemand findet, der sich in dem Themengebiet auskennt und dem man vertraut.

Autor: Dr. Christoph Messer

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