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Fördert das Teilen von Rohdaten klinischer Studien Transparenz oder Forschungsparasitismus?

Das International Committee of Medical Journal Editors’ (ICMJE) plant, die verbindliche Freigabe von Rohdaten klinischer Studien zur Voraussetzung für die Veröffentlichung in wissenschaftlichen Zeitschriften zu machen.1 Dieses Vorhaben rief in der wissenschaftlichen Gemeinde gemischte Reaktionen hervor. Auf den ersten Blick hat das Teilen von Rohdaten („data sharing“) das Potential, die medizinischen Wissenschaften voranzubringen und Transparenz zu fördern. Allerdings sind nicht alle Forscher begeistert von der Vorstellung, ihre Daten zu teilen.2 Dieser Artikel befasst sich mit einigen Bedenken und Ideen bezüglich der Regulierung des Zugangs zu Rohdaten, die seit dem Vorschlag des ICMJE geäußert wurden.

Vorteile der Veröffentlichung von Rohdaten:
• Unabhängige Überprüfung von Studienergebnissen
• Neue Erkenntnisse aus sekundären Analysen
• Daten zur Entwicklung und Erprobung neuer Hypothesen
• Vermeidung unnötiger Wiederholungen von Experimenten
• Genauere Meta-Analysen aus Originaldaten von vergleichbaren Studien werden möglich

Mögliche Probleme der Veröffentlichung von Rohdaten:
• Aufbereitung und Präsentation der Rohdaten einer komplexen klinischen Studie für nicht-involvierte Forscher erfordert Zeit und Geld, die sonst in weitere Forschungsarbeit fließen könnten3
• Die Veröffentlichung sekundärer Analysen, die auf falsch verstandenen Parametern und Datenstrukturen basieren, könnte das Vertrauen in die primären Ergebnisse verringern4
• Multiple Analysen eines Datensatzes können dazu führen, dass zufällige Korrelationen gefunden werden, in deren Masse die wirkliche Evidenz untergeht4
• Unzureichende Anonymisierung der Rohdaten kann die Privatsphäre der Studienteilnehmer gefährden4
• Durch die Veröffentlichung der Rohdaten kann eine Nische für „Forschungsparasiten“ entstehen, die die Daten anderer Forscher zum eigenen Vorteil nutzen. Diese könnten beispielsweise Sub-Analysen veröffentlichen, bevor die Original-Forschungsgruppe die Möglichkeit dazu hat, oder versuchen, die ursprünglichen Ergebnisse und Schlussfolgerungen zu diskreditieren2

Diesen Bedenken kann durch eine sorgfältige Regulierung des Zugangs zu den Rohdaten Rechnung getragen werden. Einige der vorgeschlagenen Systeme für das Datenmanagement und die Zugangsregulierung werden im folgenden Abschnitt vorgestellt.

Lösungsvorschläge:
Verwaltung der Speicherung und Freigabe von Daten von einer unabhängigen Organisation
• Die Idee des „Data Sharing“ ist nicht neu. Seit 2011 ist das Yale Open Data Access Projekt YODA in Betrieb und dient als „vertrauenswürdiger Vermittler“, dem Erstautoren ihre Daten anvertrauen und von dem Wissenschaftler einen Datenzugang beantragen können.5

Einsetzung eines Komitees zur Prüfung und Entscheidung über Datenzugangsanträge
• Bei YODA können Forscher, die sich für Studiendaten interessieren, einen Antrag auf Dateneinsicht einreichen. Über diesen wird durch die YODA-Wissenschaftler auf der Grundlage einer verblendeten Beurteilung des geplanten Projekts entschieden. Einige der Kriterien für eine positive Entscheidung sind eine klare wissenschaftliche Fragestellung, die geplante Veröffentlichung und die Durchführbarkeit der vorgeschlagenen Analysen.5
• Das Academic Research Organization Consortium for Continuing Evaluation of Scientific Studies–Cardiovascular (ACCESS CV) schlägt die Bildung eines Komitees zur Prüfung von Anträgen auf Datenzugang vor. Dieses setzt sich aus (nicht an der Originalstudie beteiligten) ACCESS CV-Wissenschaftlern, dem Projektleiter der Originalstudie, einem Statistiker und einem Mitglied des Daten- und Sicherheitsüberwachungsgremiums zusammen. Der Ausschuss überprüft Anträge und gewährt Zugang, wenn die Sekundäranalyse „machbar, hypothesenbasiert und nicht redundant ist und von technisch versierten Wissenschaftlern mit einem Plan für die Veröffentlichung geleitet wird.“4

Sperrfrist nach der Veröffentlichung, die ursprünglichen Autoren Zeit für weitere Analysen und Veröffentlichung von Sub-Analysen garantiert
• Das ICMJE schlägt eine Sperrfrist von sechs Monaten nach der Publikation vor, bevor die Studiendaten veröffentlicht werden.1
• Das International Consortium of Investigators for Fairness in Trial Data Sharing befürwortet eine zweijährige Basis-Sperrfrist, die sich für jedes Jahr Gesamtstudiendauer um sechs Monate verlängert. Das Maximum beträgt fünf Jahre.3
• ACCESS CV empfiehlt eine Zweijahresfrist, bevor Daten freigegeben werden.4

Zusätzliche Anforderungen
• Das internationale Consortium of Investigators for Fairness in Trial Data Sharing empfiehlt, sekundäre Analysen vor der Veröffentlichung von einem unabhängigen Statistiker prüfen zu lassen, um das Vertrauen in die Ergebnisse zu erhöhen. Außerdem sollten die Autoren der Originalstudie von den Autoren der Sekundäranalyse für die Kosten und Mühen entschädigt werden, die bei der Weitergabe der Originaldaten entstehen.3

Wo stehen wir jetzt?
Viele der vermeintlichen Probleme durch Data Sharing können durch hohe Standards für die Veröffentlichung von Rohdaten und sekundären Analysen überwunden werden. Dies erfordert jedoch erhebliche Anstrengungen durch Autoren von Erst- und Zweitstudien sowie Gutachter, die in der Planung künftiger klinischer Studien berücksichtigt werden müssen.

Die meisten an der Diskussion beteiligten Wissenschaftler sind sich einig, dass Data Sharing per se eine gute Sache ist. Jedoch gibt es bisher wenige Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Ideen zur praktischen Durchführung. In Anbetracht der unterschiedlichen Interessen von einerseits Wissenschaftlern, die jahrelange Arbeit in die Erhebung der Daten investiert haben, andererseits staatlichen Institutionen und der Öffentlichkeit, die die Gehälter der Wissenschaftler in Form von Steuergeldern finanzierten, und nicht zuletzt Studiensponsoren, die Millionen von Euros in die Studie investierten, ist es unwahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit eine Entscheidung zugunsten eines einheitlichen Datenaustausch-Systems geben wird.

Was sind die möglichen Ergebnisse?
Ein einheitliches Data Sharing-System für klinische Studiendaten wäre sicher das fairste Ergebnis für Autoren und Verleger. Die aktuelle Debatte kann jedoch auch zu einem Flickwerk von Data Sharing-Systemen in der medizinischen Publikationslandschaft führen. In diesem Fall könnten Autoren die Auswahl eines Journals zur Publikation ihrer Studie zusätzlich zum Impact und der Zielgruppe des Journals davon abhängig machen, wie mit ihren Daten verfahren wird. Die Position von Zeitschriften mit besonders strikten Data Sharing Richtlinien könnte so geschwächt werden. Trotzdem sieht sich das NEJM dem Data Sharing verpflichtet: „Sobald geeignete Systeme vorhanden sind, benötigen wir eine Verpflichtung unserer Autoren, die den Studienergebnissen zugrundeliegenden Daten innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen.“6

Post Scriptum: Das Potential öffentlicher Rohdaten wird derzeit im Analysewettbewerb der systolischen Blutdruckinterventionsstudie SPRINT Challenge ausgelotet, die im April 2017 endet. Es wird spannend zu sehen, was Analysten mit einem solchen Datensatz zusätzlich zu den ursprünglichen Studienbefunden erreichen können.

1. Taichman DB et al. Sharing Clinical Trial Data–A Proposal from the International Committee of Medical Journal Editors. N Engl J Med 2016; 374: 384–386
2. Longo DL et al. Data Sharing. N Engl J Med 2016; 374: 276–277
3. Devereaux PJ et al. Toward Fairness in Data Sharing. N Engl J Med 2016; 375: 405–407
4. Patel MR et al. Sharing Data from Cardiovascular Clinical Trials–A Proposal. N Engl J Med 2016; 375: 407–409
5. Krumholz HM et al. The Yale Open Data Access (YODA) Project–A Mechanism for Data Sharing. N Engl J Med 2016; 375: 403–405
6. Drazen JM. Data Sharing and the Journal. N Engl J Med 2016; 374: e24

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